Zu Beginn der Maienzeit, als die Unbilden des Winters endgültig ausgestanden waren, schickte die Druidenpriesterin von den Jurahöhen einen ausgewählten Jüngling über Land. Er war ganz in Grün gekleidet und schwenkte einen blühenden Weissdornzweig in der Hand. Auf einem festlich aufgezäumten Schimmel ritt er durch die Dörfer der Ajoie und verkündete den angebrochenen Wonnemonat. Die schönste Jungfrau der ganzen Lande sass hinter ihm auf der Kruppe und sang die frohen Sommerweisen … Es gibt Orte in unserem Land, die entrücken einen mit ihrer Atmosphäre ohne weiteres Zutun wie von selbst in sagenumwobene Sphären. Zu ihnen gehört der Kalksteinmonolith «La fille de mai» unweit der elsässischen Grenze. Wie eine versteinerte Frauengestalt erhebt er sich 33 Meter hoch aus dem steilen Buchenwald. Für die keltische Urbevölkerung verkörperte er einst die Landesgöttin Maïa. Von unserem Ausgangspunkt Bourrignon aus ist er schon von Weitem erkennbar. Vor dem Besuch der antiken Göttin führt der Pfad aber zunächst auf die hohen Kreten des nördlichen Jura, durch verwunschene Wälder aus knorrigen Buchen und Stechpalmen. Weit schweifen die Blicke von der Felsenkanzel der Grande Roche über die topfebene Ajoie. Auf den Höhenflug folgt das Eintauchen: In der tiefen Klus von Lucelle spiegelt sich die alte Abtei geheimnisvoll im stillen Weiher. In der Nähe führt ein Abstecher zu einer kleinen Grotte oberhalb des Wanderweges, die selbst die Stimmung eines alten Kultplatzes verströmt. Wie geschaffen, um hungrigen Mägen hier etwas Wegzehrung zu gönnen. Am Forstweg durch die Côte de Mai weist schliesslich ein hölzerner Wegweiser auf den Göttinnenfelsen hin, der nur durch einen schmalen Pfad zugänglich ist. Noch heute weht eine Aura längst vergangener naturmythischer Sakralfeiern über diesem geheimnisvollen Ort.