Es muss fürchterlich gekracht haben am 17. Januar 1719 in Leukerbad. Eine gewaltige Staublawine donnerte auf das damals noch kleine Walliser Bergdorf, riss 53 Menschen in den Tod und zerstörte Wohnhäuser, Thermalbäder, Gasthäuser und Wege. Seither ist der 17. Januar in Leukerbad ein Tag, an dem der Toten gedacht und um Schutz vor Lawinen gebetet wird. Schutz bieten sollten fortan aber auch handfeste Bauwerke, sogenannte Leitmauern, welche die Schneemassen auffangen und am Dorf vorbei lenken sollten.
Im Tal der Lawinen
Eine dieser Mauern ist bis heute erhalten. Ihr Ursprung wird auf 1600 geschätzt. Den 80 Meter langen und 4 Meter hohen, massiven Steinbau passiert man auf der Winterwanderung zum Majingsee, kurz nachdem man Leukerbad verlassen hat und im steilen Wald zwischen Alpentherme und Restaurant Weidstübli an Höhe gewinnt. Auf der kurzen, landschaftlich ausgesprochen reizvollen Wanderung zum tief eingeschneiten Bergsee wird klar, dass Lawinen in und um Leukerbad allgegenwärtig sind. Das Tal des Flusses Dala ist eng, die Berge schiessen steil empor. Hat es tüchtig geschneit, hört man rundherum Schneemassen zu Tal krachen. Heute setzt man in Leukerbad nicht mehr auf Leitmauern, sondern auf integralen Lawinenschutz, wie im ganzen Schweizer Alpenraum. «Der integrale Lawinenschutz besteht aus einer Kombination von Schutzwäldern, Verbauungen, Gefahrenkarten, Lawinenbulletins, künstlichen Lawinenauslösungen und temporären Massnahmen wie Strassensperrungen, Schliessungen von Skigebieten oder Evakuationen», erklärt Stefan Margreth, Leiter Schutzmassnahmen am Institut für Schnee- und Lawinenforschung (SLF) in Davos.
Erste Meilensteine
Für die Entwicklung des integralen Lawinenschutzes waren die Lawinenwinter der letzten 150 Jahre massgebend. «Entscheidend waren Winter mit überdurchschnittlich vielen Lawinen, die detailliert analysiert wurden, einen Handlungsbedarf aufzeigten und eine Entwicklung in Gang setzten», sagt Stefan Margreth. Ein erster solcher Winter war 1888. Über 1000 Lawinen gingen nieder, 84 Menschen wurden verschüttet, 49 starben. Johann Coaz, erster Eidgenössischer Forstinspektor der Schweiz, reagierte umgehend. Er motivierte die kantonalen Forstdienste, die Lawinenabgänge zu erfassen und zusätzlich über jeden Lawinenzug Statistik zu führen. Daraus erstellte Coaz einerseits eine sogenannte Ereignisanalyse – einen Überblick über die Lawinentätigkeit und die verursachten Schäden von 1888 –, andererseits fertigte er vier Kartenblätter an, auf denen knapp 10 000 Lawinenzüge aus dem ganzen Schweizer Alpenraum eingezeichnet waren.
Ursachen- statt Symptombekämpfung
Johann Coaz stiess noch weitere Veränderungen an. Vor 1888 konzentrierte man sich auf Schutzmassnahmen im Auslaufgebiet einer Lawine. Die Kirche in Davos Frauenkirch zum Beispiel erhielt bereits um 1600 einen Lawinenkeil, um die Schneemassen zu teilen. Strassen und Bahnlinien wurden mit Galerien geschützt, gefährdete Häuser erhielten verstärkte Dächer, die den Schnee über das Gebäude leiteten. Johann Coaz hingegen errichtete Verbauungen erstmalig dort, wo Lawinen entstehen: oben am Berg im Anrissgebiet. Der Schnee sollte daran gehindert werden, als Lawine zu Tal zu donnern. 1868 entstand bei Martina im Unterengadin die erste Lawinenschutzanlage aus 19 Steinmauern. Die Erfahrungen waren so positiv, dass rasch weitere Projekte folgten. 1938 verfügte die Schweiz über 1000 Kilometer Lawinenschutzbauten in Form von Mauern und Terrassen. Ergänzend dazu begann man, abgeholzte Schutzwälder aufzuforsten und bestehende unter Schutz zu stellen. 1951 folgte eine erste Bewährungsprobe.
Die Geburtsstunde der Stützbauwerke
Der Winter 1951 war ausgesprochen schneereich. In der Zentral- und in der Ostschweiz fielen in einer Woche zweieinhalb Meter Schnee, im Gotthardgebiet und im nördlichen Tessin binnen zehn Tagen vier Meter. Rund 1300 Lawinen rissen 98 Menschen in den Tod und zerstörten 1500 Gebäude. Die Ereignisanalyse offenbarte Mängel bei den Schutzbauten und in der Lawinenwarnung. Die Mauern und Terrassen hatten sich rasch mit Schnee gefüllt und ihre Wirkung verloren. Viel besser funktionierten aus verschiedenen Elementen gestaltete Stützwerke wie Schneerechen oder Schneebrücken, wie sie heute noch zum Einsatz kommen. «Nach dem Lawinenwinter 1951 war dem Bund klar, dass Lawinenschutz seine Aufgabe ist. Er kurbelte den Bau neuer Lawinenverbauungen massiv an, das damals noch junge SLF testete verschiedene Bautypen und Materialien und rüstete die Industrie mit Bauanleitungen aus», erklärt Stefan Margreth. Als weitere Massnahme verbesserte das SLF die Lawinenwarnung und erstellte neu mehrmals pro Woche ein Lawinenbulletin.
Des Weiteren kam die Ereignisanalyse zum Schluss, dass viele der zerstörten Gebäude nach 1930 erbaut worden waren. Postwendend forderte der Bund, die Gemeinden hätten Lawinenzonenpläne anzulegen – Pläne, die zeigen, wo gebaut werden darf und wo nicht. Zu Beginn freiwillig, sind Lawinenzonenpläne heute im Schweizer Alpenraum Pflicht. Rote Zonen sind besonders gefährdet und mit einem Bauverbot belegt, in blauen Zonen darf mit speziellen Schutzvorrichtungen gebaut werden, weisse Zonen gelten als sicher. «Wobei das ‹sicher› nicht als absolut verstanden werden darf», wie Stefan Margreth erklärt. «Vollkommenen Schutz gibt es nicht, ein Restrisiko besteht immer.» Seit dem Lawinenwinter 1968, als in Davos eine Lawine in ein als sicher geltendes Gebiet vorstiess, werden in der Gefahrenkarte auch Lawinen berücksichtigt, die statistisch gesehen nur alle 300 Jahre vorkommen.
Klimawandel und Unterhalt als Herausforderungen
1999 folgte die nächste Bewährungsprobe. 1200 Lawinen gingen nieder, in Gebäuden und auf Strassen starben 17 Personen. Mit einer Schadensumme von 600 Millionen Franken liess 1999 vergangene Lawinenwinter weit hinter sich. Die Analyse ergab Verbesserungspotenzial bei temporären Massnahmen vor Ort wie Strassensperrungen, Evakuationen oder Lawinensprengungen. Der Lawinenwinter 2018 zeigte deren Erfolg. Im gleichen Jahr nahm die Unesco den Umgang der Schweiz mit Lawinen in die Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit auf.
«Heute haben wir im Lawinenschutz einen sehr guten Standard erreicht. Ausruhen können wir uns aber nicht», sagt Stefan Margreth. Der Klimawandel und seine Auswirkungen auf die Lawinentätigkeit und die Schutzwälder ist eine grosse Unbekannte. Zudem kostet der Unterhalt der 550 Kilometer Lawinenverbauungen viel Geld. Rund 50 Millionen Franken geben Bund, Kantone und Gemeinden pro Jahr dafür aus. Die Investitionen lohnen sich. Heute verlieren in Gebäuden, auf Strassen und gesicherten Skipisten kaum mehr Menschen ihr Leben wegen Lawinen.
Zu den Anfängen des Lawinenschutzes in Leukerbad
Lawinen sind in Leukerbad allgegenwärtig. Der Walliser Ferien- und Kurort wurde mehrmals von verheerenden Lawinenabgängen heimgesucht. Das Dorf gehört deshalb zu den ersten, die mit Schutzbauten die Gefahr abzuwenden versuchten. Im 16. Jahrhundert wurde eine 80 Meter lange und 4 Meter hohe Leitmauer erbaut, welche die Schneemassen am Dorf vorbei zu Tal leiten sollte. Auf der Winterwanderung von Leukerbad über Lompera zum Majingsee passiert man die noch bestens erhaltene Lawinenleitmauer im steilen Waldaufstieg zwischen dem Dorfende bei der Bushaltestelle Lärchenwald und dem Restaurant Weidstübli. Bevor der Weg in den Wald eintaucht, schlängelt er sich vom Busterminal Leukerbad durch den Dorfkern mit seinen alten und gepflegten Holzhäusern und vorbei an der imposanten Alpentherme mit dem historischen Bäderkomplex. Sind nach einer knappen Wanderstunde das Dorf, die Schutzmauer und das Restaurant Weidstübli passiert, übernimmt die eindrückliche Bergwelt das Zepter. Zusehends enger wird das Tal, hohe Berge mit steilen Felswänden schiessen links und rechts in die Höhe: Schwarzhorn, Daubenhorn, Rinderhorn, Majinghorn und Torrenthorn. Hat es zuvor üppig geschneit, hört man von Weitem Lawinen zu Tal donnern. Gut, ist man auf dem präparierten Weg in sicherer Distanz. Vom Majingsee, wo die Tour endet, ist im Winter nichts zu sehen. Die weisse Fläche lässt seine Präsenz nur erahnen. Zurück geht es auf demselben Weg. Am Panorama kann man sich in der ruhigen Umgebung nochmals ausgiebig sattsehen, bevor das quirlige Leukerbad zurückkehrt. In einem der zahlreichen Restaurants lässt sich die kurze, hübsche Tour Revue passieren.