Moorzauber am Obwaldner Glaubenberg
Grösser als der Vierwaldstättersee ist die Moorlandschaft Glaubenberg. Ein schönes Stück davon durchwandert man vom Glaubenbielenpass bis zur Passhöhe Glaubenberg. Es ist eine zauberhafte, von Nadelwäldern durchsetzte Landschaft voller artenreicher, feuchter Wiesen, in denen von Juni bis August auch ein Dutzend Orchideenarten blühen. Wer möchte, beginnt die Wanderung mit einem kleinen Umweg zur Alpwirtschaft Glaubenbielen, um dort einen Startkaffee zu geniessen. Danach führt der Weg an einem Seelein vorbei Richtung Schwander Unterwengen. Talwärts geht der Blick über imposante Nadelwälder. Bergwärts blühen auf den Alpwiesen der Gelbe Eisenhut und die Türkenbundlilie – weiter oben erhebt sich die Felskappe des Rotspitzes. Nun geht es weiter, dem Hang entlang. Die Landschaft wird feuchter, die Waldpartien werden ausgedünnter, Hangabrisse fördern dunkelbraune, torfige Erde zutage. Aus den Heidelbeeren ragen knorrige Fichten und Föhren – manche der Bäume sind bloss noch braune Gerippe. Teilweise wandert man auf Moorstegen, die vom Zivilschutz oder von der Armee gebaut wurden. Nach der Alp Loo führt ein Fahrweg Richtung Sattelpass. Hier weist eine Inschrift darauf hin, dass der Weg zwischen Loo und Sattelpass, mitsamt einer hübschen Brunnenanlage, im Zweiten Weltkrieg von Internierten aus Italien, Polen und Russland gebaut wurde. Nun steigt der Weg an, über Miesenegg nach Trogenegg, wo sich ein wunderbares Panorama bietet. Das Moorgebiet mutet hier teilweise schon fast Tundra-ähnlich an – nur noch vereinzelt vermögen sich in dieser harschen Landschaft mickrige Bäumchen zu halten. Auf einer Krete wandert man nun dem Ziel entgegen. Östlich ist etwas weiter unten der Schiessplatz Glaubenberg zu sehen. Ein letzter Schluck aus der Trinkflasche. Dann geht es abwärts – wer noch mag, geht über die Sewenegg, die anderen wählen das Strässchen über Schnabel Richtung Glaubenbergpass.
Der Kanton Obwalden trägt den Wald in seinem Namen. Und wer sich ins Herz der Schweiz aufmacht, wird nicht enttäuscht: 42 Prozent der Fläche Obwaldens bestehen aus Wald, gesamtschweizerisch liegt der Anteil bei 31 Prozent. Auch auf der Wanderung von Glaubenbielen nach Glaubenberg sind Bäume allgegenwärtig. Nicht weil der Weg stets durch schattige Wälder führen würde. Sondern weil sich, oft mit wunderbarem Blick ins Tal, die Funktionen des Obwaldner Waldes exemplarisch beobachten lassen.
Von Glaubenbielen führt der Weg vorerst über hügelige Weiden; unter einer Fichte haben es sich einige Rinder gemütlich gemacht. Die Fichte ist der ständige Begleiter auf der Wanderung. «60 Prozent der Obwaldner Bäume sind Fichten», sagt Christoph Aeschbacher vom Amt für Wald und Landschaft des Kantons. Ihre natürliche Verbreitung hat diese Baumart in den montanen und subalpinen Höhenstufen ab ungefähr 1200 Meter über Meer.
Riesige Wasserspeicher
Bereits auf dem ersten Streckenabschnitt Richtung Schwander Unterwengen zeigt sich eine Charakteristik der Obwaldner Landschaft: Auf der einen Seite des Weges türmen sich die Felsmassen steiler Gräte, auf der anderen führen Talsenken und Gräben das Wasser hinunter ins Tal Richtung Giswil und Sarnersee. Bäume sind in dieser Topografie enorm wichtig. «Der grösste Teil der Wälder in unserem Kanton sind Schutzwälder», sagt Christoph Aeschbacher. Oben, in den steilsten Lagen, bannen die Bäume die Steinschlag- und Lawinengefahr. Weiter unten, in den Tälern, sorgen sie für den Wasserrückhalt bei Starkregen und verhindern Rutschungen und Hochwasser. «Die Bäume halten mit ihren Wurzeln den Boden zusammen, und die Wälder sind ein riesiger Wasserspeicher und Wasseraufbereiter», erklärt Aeschbacher.
Schwierige Holzernte
Eine zweite wichtige Funktion des Waldes ist die Holznutzung. Sie hat sich in Obwalden in den vergangenen 40 Jahren erhöht, dank modernerer Bewirtschaftungsmethoden wie dem Mobilseilkran. Die hochgelegenen, steilen und meist wenig erschlossenen Wälder erschwerten aber eine kostendeckende Holzernte, wie Aeschbacher sagt. «Preislich können wir nicht mit Flachlandkantonen mithalten.»
Das sei der eine Grund, der die Holznutzung in Obwalden einschränke. Der andere: Der Holzschlag darf nicht die Schutzfunktionen des Waldes gefährden. Im 19. Jahrhundert kam es in der ganzen Schweiz mehrfach zu Verwüstungen, weil der Mensch die Wälder heruntergewirtschaftet und kahlgeschlagen hatte. Man vergrösserte durch Rodungen Anbau- und Weideflächen, man brauchte Brenn- und Bauholz – und Holz war eine Einnahmequelle: Die Gemeinde Alpnach beispielsweise habe Anfang des 19. Jahrhunderts ihre Wälder abgeholzt und das Holz in die Niederlande verkauft, um den Neubau der Kirche zu finanzieren, erzählt Aeschbacher. Noch heute hält sich die Legende, dass ein guter Teil von Rotterdam auf Alpnacher Pfählen steht.
Kaum noch unberührte Wälder
Wie grosse Teile der Schweiz war der Kanton Obwalden während der letzten Eiszeit vor ungefähr 20 000 Jahren praktisch baumlos. Gewaltige Gletscher regierten; Pflanzen, Sträucher und Bäume hatten sich in isolierte Refugien in eisfreien Zonen zurückgezogen. Erst als die Temperaturen stiegen und die Gletscher schmolzen, konnten sie sich wieder verbreiten. Die ersten Pioniere unter den Baumarten waren die Birke und die Föhre. Als vor ungefähr 12 000 Jahren die letzte Eiszeit endgültig Geschichte war, bildete sich ein wärmeliebender Eichenmischwald. Einige Tausend Jahre später, das Klima war feuchter und stabiler geworden, kamen Weisstanne und Buche auf – ungefähr vor 5500 Jahren auch die Fichte.
Zu dieser Zeit prägte bereits der Mensch die Waldentwicklung. Mit Brandrodungen und Fällaktionen gestaltete er die Naturlandschaft in eine Kulturlandschaft um. Zuerst langsam, mit zunehmender Besiedlung immer stärker. Heute, sagt Christoph Aeschbacher, existierten nur wenige vom Menschen unberührte Wälder im Kanton. «Am Pilatus gibt es zum Beispiel einige schwer zugängliche Felsrippen, auf denen wohl noch kaum jemand geholzt hat.»
Durch das Revier des Auerhuhns
Einige wenig berührte Waldstücke oder Baumbestände sind zudem auf der Wanderung Richtung Glaubenberg zu bestaunen. Denn der Weg führt durch das grösste Moorgebiet der Schweiz. Es erstreckt sich auf 130 Quadratkilometern vom Glaubenbielenpass bis zur Pilatuskette und ist damit grösser als der Vierwaldstättersee. Zwischen Heidelbeerstöcken, Knabenkräutern und dem Wollgras mit seinen weissen Büscheln führt die Wanderung über den Rorboden bis zur Alp Loo und von dort weiter Richtung Sattelpass. Er war früher die direkte Verbindung zwischen Obwalden und dem Entlebuch. Zum Teil wandert man über Moorstege, die vom Zivilschutz oder der Armee gebaut wurden.
Im nassen, sauren Boden tun sich Bäume schwer, nur wenige Arten gedeihen hier. Eine Spezialistin für solche Lagen ist die Bergföhre. Sie bildet im Verbund mit der Fichte lockere Wäldchen oder steht einzeln in den Moorflächen. Es sind ökologisch wertvolle Gebiete, in denen sich beispielsweise das Auerhuhn wohlfühlt, von dem schweizweit nur noch wenige Hundert Tiere existieren. Am Wegrand stehen und liegen immer wieder abgestorbene Baumstämme. Wegen der Unzugänglichkeit sei es in vielen Gebieten normal, dass beispielsweise ein vom Blitz getroffener Baum einfach im Wald bleibe, erklärt Christoph Aeschbacher. Deshalb verfügten die Obwaldner Wälder über einen vergleichsweise hohen Anteil an Totholz. Totes Holz ist Nahrung und Lebensraum für Hunderte von Tierarten – von prächtigen Bockkäfern über seltene Schwebfliegen bis zu grazilen Schlupfwespen.
Nur wenig Privatwald
Eine Eigenheit des Obwaldner Waldes sind die Besitzverhältnisse. 89 Prozent der Waldfläche gehören insgesamt 13 Korporationen, Bürgergemeinden oder anderen öffentlichen Institutionen. Nur 11 Prozent sind in privatem Besitz. Für die Bewirtschaftung sei das ein Vorteil, sagt Aeschbacher, der auch als Kreisforstingenieur des Gebiets Alpnach und Sachseln amtet. «Wenn wir Eingriffe planen, müssen wir oft nur mit einem Besitzer verhandeln und uns absprechen. In anderen Kantonen sucht der Forstingenieur dafür das Gespräch mit Dutzenden Eigentümern.»
Vielleicht vereinfacht das auch die Arbeit am Wald der Zukunft. Der Klimawandel, sagt Aeschbacher, werde einen enormen Einfluss auf die zukünftige Baumartenzusammensetzung in den Wäldern haben. In einem gebirgigen Kanton wie Obwalden bedeutet das vor allem: Waldgesellschaften verschieben sich in die Höhe. «Wir werden auf 1700 Metern über Meer ein Waldbild haben wie heute auf 1200 Metern», sagt Aeschbacher. Buche, Bergahorn, Ulme und Esche etwa würden profitieren, aber auch Eichen werden zunehmend das Bild in den unteren Lagen prägen.
«Die Fichte und die Bergföhre verschwinden deswegen aber nicht», sagt Aeschbacher. Und so werden die Nadelbäume noch lange Zeit Wandernde durch die Moorlandschaft begleiten. Auch auf dem letzten Stück, zum Teil auf dem Gebiet des Schiessplatzes Glaubenberg, und schliesslich hinunter zur Passhöhe, wo ein Beizli und das Postauto warten.
Tipp
Einen Zwischenhalt wert ist das Alpbeizli Sattelpass, ungefähr auf halbem Weg der Wanderung. Von Ende Mai bis Ende September lassen sich hier bei schönster Aussicht einfache Speisen geniessen. Wer ein Picknick dabei hat und noch etwas länger durchhält, kann sich für den Boxenstopp auch in eine der Seilbahnkabinen setzen, die zwischen Sattelpass und Trogenegg am Wanderweg stehen.
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